Menü

 

 

 

 

 



„Es starben so viele, dass keiner mehr davon Notiz nahm“
Dokumente am und zum Beginn des Großen Krieges

Am Ende sind es Dokumente, Berichte und Sachzeugen, ja sogar persönliche Notizen, die uns heute, 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, eine Ahnung davon geben, wie sich der europaweite Konflikt zu einem Weltbrand entwickelte. Einige Dokumente aus den ersten Tagen des August 1914 seien hier vorgestellt und geben einen Einblick, wie kraftmeierisch und selbstüberschätzend die Nationen an die Grenzen und bald Fronten zogen, um schließlich über 17 Millionen zumeist jungen Menschen einfach in den Tod zu jagen. Es ist ein Wahnsinn, mit welcher Euphorie die Medien in diesen Tagen von Hurra und Fanfarengeschmetter berichten, fast bekommt man den Eindruck, als hätten die beteiligten Völker - unter dem Druck völlig verklärter Feindbilder - nur darauf gewartet und könnten nun endlich heimzahlen.

Doch schauen wir zuerst in einige Telegramme aus den ersten Tagen des Augusts. Zutage tritt dabei auch eine sehr fragwürdige Herangehensweise des britischen Empire, welches in großem Maße einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland mit diplomatischen Mitteln hätte verhindern können.

Telegramm des Königs von England George V. an den deutschen Kaiser vom 1. August 1914:
„Vielen Dank für Dein Telegramm von gestern Nacht. Ich habe ein dringendes Telegramm an Nikolaus (russischer Zar) geschickt, in dem ich ihm meine Bereitwilligkeit ausgesprochen habe, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen den beteiligten Mächten zu fördern. Georg.“
Telegramm des deutschen Botschafters in London an den deutschen Kaiser vom 1. August 1914:
„Soeben hat mich Sir Edward Grey (britischer Außenminister) ans Telephon gerufen und mich gefragt, ob ich glaubte, erklären zu können, daß für den Fall, daß Frankreich neutral bliebe in einem deutsch-russischen Kriege, wir die Franzosen nicht angriffen. Ich erklärte ihm, ich glaube die Verantwortung hierfür übernehmen zu können. Lichnowsky.“
Telegramm des deutschen Kaisers Wilhelm II. an den englischen König vom 1. August 1914:
„Ich habe soeben die Mitteilung Deiner Regierung erhalten, durch die sie die französische Neutralität unter der Garantie Großbritanniens anbietet. Diesem Anerbieten war die Frage angeschlossen, ob unter diesen Bedingungen Deutschland darauf verzichten würde, Frankreich anzugreifen. Aus technischen Gründen muß meine schon heute Nachmittag nach zwei Fronten, nach Osten und Westen angeordnete Mobilmachung vorbereitungsgemäß vor sich gehen. Gegenbefehl kann nicht mehr gegeben werden, weil Dein Telegramm leider zu spät kam. Aber wenn mir Frankreich seine Neutralität anbietet, die durch die englische Armee und Flotte garantiert werden muß, werde ich natürlich von einem Angriff auf Frankreich absehen und meine Truppen anderweitig verwenden. Ich hoffe, Frankreich wird nicht nervös werden. Die Truppen an meiner Grenze werden gerade telegraphisch und telephonisch abgehalten, die französische Grenze zu überschreiten. Wilhelm.“
Telegramm des Königs von England George V. an den deutschen Kaiser vom 1. August 1914:
„In Beantwortung Deines Telegramms, das soeben eingegangen ist, glaube ich, daß ein Mißverständnis bezüglich einer Anregung vorliegen muß, die in einer freundschaftlichen Unterhaltung zwischen dem Fürsten Lichnowsky und Sir Edward Grey erfolgt ist, als die Frage erörtert wurde, wie ein wirklicher Kampf zwischen der deutschen und französischen Armee vermieden werden könne, solange noch die Möglichkeit besteht, daß ein Einverständnis zwischen Österreich und Rußland zustande kommt. Sir Edward Grey wird den Fürsten Lichnowsky morgen früh sehen, um festzustellen, ob ein Mißverständnis auf seiner Seite vorliegt. Georg.“
Telegramm des deutschen Botschafters in London an den deutschen Kaiser vom 2. August 1914:
„Die Anregung des Sir Edward Grey, die auf dem Wunsche beruht, die Möglichkeit dauernder Neutralität Englands zu schaffen, ist ohne vorherige Stellungnahme gegenüber Frankreich und ohne Kenntnis der Mobilmachung erfolgt und inzwischen als völlig aussichtslos aufzugeben. Lichnowsky.“

Der 1. August 1914 wird zum Schicksalstag für ganz Europa. Der deutsche Kaiser hatte die Mobilmachung für die Kriegsvorbereitung ausgerufen. Frankreich reagiert und macht gleichermaßen mobil. Interessant ist, dass auch die Franzosen sich neben der Verteidigung auch auf einen Angriff am Oberrhein vorbereiten. Das erste Ziel: Elsass-Lothringen, seit 1871 Teil des deutschen Kaiserreiches. Natürlich hofft Frankreich darauf, dass sich die deutschen Verbände erst einmal Russland zuwenden. Noch gibt es keine Kriegserklärung zwischen Frankreich und Deutschland.
Am 1. August 1914 19 Uhr, nach Ablauf eines deutschen Ultimatums an Russland, die Generalmobilmachung an der deutsch-russischen Grenze vom 30. Juli 1914 wieder rückgängig zu machen, überreicht der deutsche Botschafter in Sankt Petersburg die Kriegserklärung. Indessen überschreiten noch am 1. August russische Einheiten die deutsche Grenze. Gleich am Morgen des 2. August 1914 fordert die deutsche Regierung ultimativ Belgien auf, deutsche Truppen durch das neutrale Belgien marschieren zu lassen. Deuschland garantiert, für alle Schäden beim Durchmarsch aufzukommen. Belgien lehnt dies kategorisch ab. Indessen versichert die britische Regierung Frankreich, dass die englische Flotte Frankreich zu Hilfe kommen werde. Zudem besteht eine geheime Absprache, das England sechs Heeresdivisionen im Falle eines Krieges mit Deutschland den Franzosen zur Verfügung stelle. Trotzdessen gibt der britische Außenminister am 2. August 1914 vor dem Londoner Unterhaus bekannt, England habe sich bisher in Bezug auf den möglichen Krieg auf dem Festland in Europa noch nicht festgelegt.

Das deutsche Kaiserreich hingegen erklärt am 2. August 1914 vorerst nur Luxemburg und am Tag darauf Frankreich den Krieg. Gleichzeitig beginnt der deutsche Vormarsch gen Frankreich. Belgien wird von den deutschen Truppen ohne Zustimmung der dortigen Regierung als Aufmarschgebiet widerrechtlich genutzt. Die Kriegserklärung an Belgien folgt erst am 4. August. Der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg spricht dazu vor dem deutschen Reichstag:
„So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht - ich spreche offen - das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut“.
Doch Fakt ist, Deutschland hatte die Neutralität Belgiens verletzt. Großbritannien reagiert am 4. August 1914 und erklärt Deutschland den Krieg. Damit hatten sich alle entscheidenden europäischen Nationen den Krieg erklärt. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Wilhelm II. erklärte auf dem deutschen Reichstag am 4. August:
„Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden Sie ersehen, wie Meine Regierung und vor allem Mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äußerste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr, mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert. An die Völker und Stämme des Deutschen Reiches ergeht mein Ruf, mit gesamter Kraft, in brüderlichem Zusammenstehen mit unseren Bundesgenossen zu verteidigen, was wir in friedlicher Arbeit geschaffen haben. …
Auf Sie, geehrte Herren, blickt heute, um seine Fürsten und Führer geschart, das ganze deutsche Volk. Fassen Sie Ihre Entschlüsse einmütig und schnell - das ist Mein innigster Wunsch. Sie haben gelesen, meine Herren, was ich zu meinem Volke vom Balkon des Schlosses aus gesagt habe. Ich wiederhole, ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche und zum Zeugen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne Standes- und Konfessionsunterschiede zusammenzuhalten, mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir in die Hand zu geloben.“

Der Kaiser aber war der erste nicht, der dem Tod ins Antlitz schauen musste. Das waren die Bürger aus allen Landesteilen, die durch die Mobilmachung aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurden. Zigfach hätte es für Deutschland auch die Möglickeit gegeben, sich auf einen Verteidigungkrieg einzustellen. Natürlich kann keiner die Frage beantworten, was wäre gewesen, wenn sich Deutschland von Anfang an nur verteidigt hätte. Aber da war das Bündnis mit Österreich-Ungarn, und da waren die seit Jahrzehnten festgefahrenen Feindbilder und da war der große Wunsch nach Mehr. Mehr Land, mehr Reichtum, mehr Macht …

Die ersten Opfer an der deutsch-französischen Grenze waren zwei junge Männer. Der 22-jährige Leutnant Albert Mayer, gebürtig aus Magdeburg, der bereits am 2. August 1914 (also Stunden vor der Kriegserklärung an Frankreich) den Befehl bekam, auf französisches Gebiet vorzudringen und dort aufzuklären. Noch in einem Brief an seine Eltern schrieb er am Tage zuvor:
„Vielleicht erreicht Euch dieser Brief nie, vielleicht bald, vielleicht wenn schon ich und mein Regiment an Orten sind, wo keine Menschenmacht uns mehr zurückholt. Jedenfalls wünsche ich Euch allen, nicht etwa, daß ich pessimistisch wäre, aber ich glaube, ein gewisses Gefühl der Vorsicht wohnt doch jetzt in jedem - also ich wünsche Euch allen ein recht herzliches Lebewohl.“
Bei seinem Patrouillenausritt trifft seine Schwadron des Jäger-Regimentes No. 5 zu Pferde auf eine stärkere französische Einheit. Es kommt zu einem Gefecht. Ein Zeuge berichtet:
„Durch einen Schuss wurde der (franz.) Korporal Peugeot getroffen und sogleich getötet. 200 Meter weiter stürzte Leutnant Mayer, der weit voraus vor seinen Leuten ritt, tot, von zwei Kugeln in die Schläfe und in den Oberschenkel getroffen, nieder.“
Das waren die beiden ersten Opfer an der Westfront. Neben ihrem Korporal bestatten die Franzosen mit allen Ehren auch den deutschen Offizier. Auch Peugeot schrieb am 2. August, kurz vor dem Gefecht einen Brief an seine Eltern:
„Papa soll möglichst bald kommen. Es gibt noch nichts Ernstliches, seid ohne Sorgen. Auf ein baldiges Wiedersehen, davon bin ich überzeugt. Euer Sohn.“

Axel Kühling

 

Menü